Buchtipps

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Kittelschürze – das Symbol für Fleiß und Aufopferung

Sinnieren über Weiblichkeit

(RS) Das Rascheln des Kleides war etwas Ungewohntes. Es war das Kleid, dessen Oberteil
vorne mit Perlen bestickt war. Mutter zog es sehr selten an. Die Kittelschürze an ihr war mir
vertrauter. Alltags dominierte die Sorte aus Nylon, deren Farben und Muster das Gegenteil
von gefällig waren. Sonntags kamen die gestärkten aus Baumwolle zum Einsatz. Gemocht
habe ich keine.
Kittelschürzen waren praktisch für die Arbeit in Haus und Garten. „Treusorgend“ war das
Etikett, mit dem damals Frauen geadelt wurden. Damit musste frau keineswegs glücklich sein.
Staunend vernahm ich beispielsweise, dass Mutter die Rolle als Hausfrau nach der
Eheschließung zum Halse heraus hing wegen der ewig gleichen Handgriffe. Ihre Mutter
redete ihr gut zu, erzählte sie mir. Das sei das Los der Frauen, habe Oma gesagt. In mir löste
das eine heftige und lang anhaltende Rebellion gegen dieses Schicksal aus, was später in
politisches Engagement mündete.
Dass frau sich unter der Kittelschürze beliebig kleiden kann, ist ideal für Freiheitsliebende.
Nicht alle legten sie ab, bevor sie zum Einkaufen gingen. Meine Mutter zog sich jedoch für
die Öffentlichkeit um. Rock und Bluse, erst sehr viel später durfte es auch mal eine lange
Hose sein.
Mir erlaubte sie nicht, in einer Jeans zur Schule zu gehen, als dies für Mädchen immer mehr
üblich wurde. Schicklich für Mädchen fand sie höchstens Hosen mit Steg – die eigentlich nur
noch auf der Ski-Piste zum Outfit gehörten. Ich beneidete die Jungs.
Als ich noch nicht schulpflichtig war, entdeckte ich hinter einem Vorhang eine Tüte, die mich
sehr neugierig machte. Was ich daraus hervorzog, war rosa und fühlte sich weich an. Wie das
wohl schmeckte? Gerade noch rechtzeitig bog meine Mutter um die Ecke und entzog mir das
faszinierende Rätsel, bevor ich hineinbeißen konnte. „Das ist nichts für Dich!“, schalt sie
energisch. Aber worum es sich handelte, verriet sie nicht.
Erst Jahre später wurde ich aufgeklärt. Die altmodischen Methoden dem Monatshygiene
wären lohnend für einen extra Schwerpunkt. Und wieder beneidete ich die Jungs, die „sowas“
an ihrem Körper nicht zu berücksichtigen hatten. Es war ein Tabu – egal, ob frau damit
haderte oder nicht. Nur wir Mädels untereinander tauschen uns anfangs darüber aus. Es galt
als Punktsieg, wenn eine früher ihre Menstruation bekam als der Rest der Mitschülerinnen.
Sichtbar wurde es nur, wenn frau sich beim Sport ausklinkte und von einer Bank aus
Turnübungen oder Völkerball beobachtete. Doch Vorsicht: Klagte eine zu viel über
Bauchweh, brachte das Minuspunkte! „Stell dich nicht so an!“, war die weit verbreitete
Schmähung.
Vor diesem Hintergrund ist es erklärbar, dass für mich „treusorgend“, Kittelschürze und Blut
zu den Schwerpunkten der Weiblichkeit zählten bis ich der Schule entwachsen war und
andere Erfahrungen machte. Jedoch schlossen spätere Erfahrungen nicht aus, dass mir oft das
Los der Männer leichter vorkam. Man sprach damals überdies noch vom „starken“

Geschlecht, das durch die Bundeswehr „Schliff“ erfuhr und als Familien-Ernährer sich keine
Schwächen erlauben durfte. Die Welt schien eindeutig zweigeteilt. Nobelpreisträgerinnen gab
(und gibt!) es nur wenige, und was Frauen während des Krieges geleistet hatten (nicht nur die
Trümmerfrauen!), stellte man ungern und daher selten ins Licht der Öffentlichkeit.
experimenate 3/2024
Magazin für Literatur, Kunst und Gesellschaft
Herausgegeben von: INKAS – Institut für Kreatives Schreiben
im Netzwerk für alternative Medien und Kulturarbeit e. V.

Verstrickt in Vorsorge für den Untergang

Jenny Offills Roman „Wetter“ destilliert knappe Alltags- und Gedankensplitter

Man mag von „schlankem Erzählen“ angetan sein, einen Spannungsbogen verheißt das Auffädeln von knappen Beobachtungen und Gedanken in dem Roman Wetter aber nicht. Die leise Grundmelodie bildet der Ruin unseres Planeten. Darüber legt die US-Autorin Jenny Offill etliche Banalitäten des Alltags, die einen Gutteil der Textschnipsel für sich beanspruchen. Andere Schnipsel öffnen Blickschneisen auf Phänomene und Hintergründe, die über die angestammte Erlebenswelt der Ich-Erzählerin Lizzie hinausreichen und ausgiebigen Recherche-Fleiß belegen. Das ist das eigentliche Plus dieses Buches: es scheint aufzusammeln, was in der Luft liegt, aber nicht breit getreten werden soll, damit die „Weltuntergangszuflucht“ doch noch gefunden werden kann.

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Verliebt und weiterhin im Zwiespalt

Steffen Schroeder entführt in „Mein Sommer mit Anja“ beschwingt in die 80er Jahre

Der Mutigste ist Konrad nicht, doch er knickt nicht ein, wenn es gilt, Geheimnisse zu bewahren, Bewährungsproben zu bestehen und Freundschaft mit Schwächeren trotz der Frotzeleien anderer Teenies durchzuhalten. 13 oder 14 Jahre mag er jung sein, als er Anja begegnet, die so ganz anders ist als die albernen Mädchen, die er sonst so kennt. Aus seiner Perspektive erleben wir einen Sommer in München – 1980er Jahre, gesichertes Milieu, bereit für vergnügliche Ferien und neue Erfahrungen. Autor Steffen Schroeder trifft das Zeitkolorit und die Stimmung des planlosen Hineinwachsens in Hausforderungen, mit denen das Erwachsenwerden Fahrt aufnimmt. Mein Sommer mit Anja erzählt von Freundschaft, zarter Verliebtheit und Verrat. Weiterlesen

Ausflüge auf unsicheres Terrain

Hans Gerhard: Aber möglich, möglich muss es doch sein. Kurzgeschichten

„Aber möglich, möglich muss es doch sein“ – dieses Bohrende im Titel hat etwas mit Unbeirrbarkeit und Nichtnachlassen zu tun. Zwei Eigenschaften, die den Schreibstil des Autors Hans Gerhard gut charakterisieren. Was er erzählt, lebt genau von dieser Herangehensweise an Situationen, in denen sich Verhalten auf unsicherem Terrain spiegelt oder die das Abseitige im Alltag hervorkehren. Das Ganze verpackt in 15 überraschende Kurzgeschichten, gewürzt mit hintergründigem Humor oder feinsinniger Ironie. Weiterlesen

Nicht alle Geheimnisse gelüftet

Viola Rohner serviert mit „42 Grad“ raffiniert kondensierte Lesekost

Vergänglichkeit kann auch ohne Melancholie erlebt und erzählt werden, das setzt sich als Eindruck bei der Lektüre von 42 Grad fest. Insgesamt neun Erzählungen umfasst der Band von Viola Rohner, aus deren Feder sogar die Schilderungen banaler Alltagsverrichtungen die Spannung nicht sinken lassen.

Den Auftakt macht ein Meerschweinchen, das der Verwesung überlassen wird. Warum? Auch darauf kann man sich bei Rohner verlassen: Sie lüftet nicht jedes Geheimnis. Etliches darf der Leser respektive die Leserin für sich selbst dechiffrieren. Fünfmal wechselt die Erzähl-Perspektive in dieser Geschichte, die von der Vereinzelung von Familienmitgliedern handelt, die dem Lauf der Dinge geschuldet ist. Vorhersehbar ist – wie auch in den anderen Geschichten – nichts. Weiterlesen

Alles bestens – bis der Flugschein ausbleibt

Kristine Bilkau erhebt „Eine Liebe, in Gedanken“ zu einem kostbaren Kleinod, das über den Tod hinaus seinen Zauber behält

Von Renate Schauer

Eine erfolgreiche Architektin setzt sich mit dem Nachlass ihrer Mutter auseinander. Im Zentrum steht deren Liebe in den 1960er Jahren, die nach der Verlobung ins Freischwebende geriet. Sie blieb dort wie eine Wolke hängen und nahm als Passivum unterschwellig Einfluss auf die Realität, ohne sich mit ihr zu verschränken. Eine Liebe, in Gedanken ist ein leiser, dichter Roman von Kristine Bilkau, der auf mehreren Ebenen spielt und subtil die Zeichen der Zeit einfängt, die das Flüggewerden der Kriegskinder begünstigen, bevor die Bewegung der 68er einen anderen Wind in die Gesellschaft bläst.

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Unverbrüchlich ist nur die Liebe zur Oma

In Fanny Wobmanns Roman „Am Meer dieses Licht“ sind Nachspüren und Aufbruch zentral

Von Renate Schauer

Es kann gelegentlich eklig sein mit der Großmama. Auch ist sie in manchen Momenten verwirrt. Doch dass sie von ihrer Enkelin in jeder Verfassung geliebt wird, steht außer Frage. Kontrastierend zur hingebungsvollen Begleitung am Krankenbett tritt die Eigenliebe der Ich-Erzählerin Laura ins Rampenlicht. Das eine Leben verlöscht, während das andere erblüht, sich vermehrt. So lässt sich Fanny Wobmanns zweiter Roman Am Meer dieses Licht grob skizzieren.
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Das Unerwartete dominiert

Hans Gerhards „Mehr Zuhause als ich“ versammelt Szenen, die durch ihre Spiegelungen bestechen

Von Renate Schauer

Hans Gerhards 14 Kurzgeschichten Mehr zu Hause als ich werden dem Titel des Bändchens gerecht. Der Autor verdichtet Szenen, die jenseits gängiger Erwartungen spielen. Sich darin zu Hause zu fühlen ist schwer, denn auch die ProtagonistInnen kennzeichnet meist eine Distanz zu dem, was sie durchleben, die manchmal sogar an ungläubiges Staunen grenzt. Dieser Kniff ermöglicht eine frappierende Genauigkeit, mit der Sekundenbruchteile, Nichtgesagtes sowie kleinste Details und Regungen zu fesseln vermögen.

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Zeiten-Wechsel mit „Omi“

Helmut Kuhn ist mit der Romanfigur Holli Umsiedler ein warmherziger Vergangenheitsforscher gelungen
Von Renate Schauer

Wenn einer Holli Umsiedler heißt und sich seiner heimatvertriebenen Omi annimmt, klingt das nach einer schicksalhaften Verschränkung ohne Schnörkel. Tatsächlich trägt dies die Grundstimmung des Romans Omi von Helmut Kuhn, einem Autor, der sehr gewandt mit Sprache umgehen kann und von dem literarisch vermutlich noch einiges zu erwarten ist.

Nur wünscht man sich, dass er künftig seine Experimentierfreude etwas zähmt oder besser kanalisiert. Denn weil die Geschichte mit der Omi, der er gerne eine Rückkehr in die Heimat ermöglichen möchte, nicht allzu üblich geraten soll, ist ein überirdisches Wesen hineingewebt, das ungerechtfertigt Aufmerksamkeit absorbiert. Zwar ist dieses surreale Lichtmädchen namens Marylong amüsant und weist mit spitzen Fingern in futuristische anmutende Fantasie-Welten, aber der Versuch, sie mit der Welt der Heiligen von anno dazumal zu verquicken, provoziert Grinsen wie bei einer Satire. Das sollte vielleicht auch so sein, aber der wohl ebenfalls beabsichtigte Effekt, die Jugend mit ins Boot zu holen bei einer Materie, die für gewöhnlich eher ältere Semester fesselt, verliert dadurch erheblich an Wirkkraft.
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Vom Luxus, Ausgesuchte zu treffen

Mit „Für eine Nacht oder fürs ganze Leben“ ist Ursula März der Liebesanbahnung auf der Spur
Von Renate Schauer

Sich eine „bessere Hälfte“ anzulachen, kann ganz schön anstrengend sein. Warum sich also nicht helfen lassen? Dafür gibt es Agenturen oder Partnerbörsen im Internet. Wenn bei Verabredungen die Chemie stimmt, heißt das jedoch noch lange nicht, dass der ersehnte Funke überspringt beziehungsweise sich eine Verbindung „Für eine Nacht oder fürs ganze Leben“ anbahnt. Von fünf Dates unter dieser Spannung erzählt Ursula März in ihrem Buch mit diesem Titel.
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Seine Feigheit verstört den Herrn Staatsanwalt

Klaus Marxen lässt in seinem Roman „Weiheraum“ Zeitgeschichte in schicksalhaften Verstrickungen lebendig werden

Von Renate Schauer

Mit „Weiheraum“ legt Klaus Marxen einen Roman vor, der episodisch im Präsens zwei Personen in unterschiedlichen Sphären in die Katastrophe führt. Verdeutlicht werden Charaktere und deren Schicksale im zeitgeschichtlichen Kontext von 1901 bis 1950. Man ahnt, welche Wirren die Protagonisten vor heikle Fragen stellen, zumal ein Strang der Handlung in Berlin und der andere in Südmähren angesiedelt ist. Die Wege des tschechischen Mädchens Leuka und des Berliner Staatsanwalts Friedrich Liedke kreuzen sich im Wiener Landgericht. Das wird im Vorwort verraten, in dem es außerdem heißt, die Wirklichkeit tauge lediglich dazu, Spuren zu legen – dagegen müsse die Wahrheit erzeugt werden.
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Wenn Schicksal gnadenlos macht

Guido Kniesel thematisiert Zwangsläufigkeit jenseits persönlicher Verantwortung in seinem Krimi

Von Renate Schauer

Mit „Kein Wille geschehe“ ist Guido Kniesel ein Krimi gelungen, der trotz Spannung eine erfreuliche Übersichtlichkeit behält. Das heißt, die Handlungsfäden sind nicht allzu verwirrt, die Stoßrichtung ist schnell klar. Trotzdem fesselt bis zuletzt die Frage, wer denn nun diesem mörderischen Wahnsinn ein Ende setzt.

Es beginnt mit einer Tat aus Eifersucht. Das Kapitel trägt die Überschrift „Ursache“. Die „Wirkung“ wird in 60 Kapiteln zügig beschrieben. Einzelnen Kapiteln voran gestellt sind Zitate, wie zum Beispiel das von Eugène Ionesco, französisch-rumänischer Schriftsteller (1909-1994): „Da wir die Sonne nicht versetzen, den Tod nicht verschieben können, ist es sinnlos, etwas verändern zu wollen.“ Es geht um das Schicksalhafte, um den Zufall, um Schuld und den freien Willen.
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Die letzte Bettung kann vielfältig sein

„Applaus für Bronikowski“ enttabuisiert den Bestatter-Beruf
Von Renate Schauer

Bronikowski kann nichts dafür, dass dieser leise Roman seinen Abschied von der Welt mit schwarzem Humor der Realität geräuschvoll enthebt und zum angeblich großen Auftritt stilisiert. Die Bühne dafür ist so gewählt, als handele es sich um eine Burleske, die Leben und Tod in Einklang bringen möchte. Bis auf diese Szene zum Schluss enthält Kai Weyands Applaus für Bronikowski ungeheuer viel Leichtfüßiges, über das man sich amüsieren kann, während gleichzeitig eine Lanze für das Bestatterwesen gebrochen wird.
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Nicht alles enträtseln

Marion Brasch beschreibt in ihrem zweiten Roman „Wunderlich fährt nach Norden“ charmante Momente im Unbestimmten
Von Renate Schauer

Acht Tage begleiten wir Wunderlich, 43, Gelegenheitsjobber nach gescheiterter Ausbildung zum Bildhauer, der Wundersames und Skurriles erlebt, das ihn nach und nach aus seiner Lethargie lockt. Bevor es auf Seite 255 heißt, der Protagonist sei „aufgewacht“, ließ er sich (fast) nur treiben. Belohnt wurde er mit der Entwicklung vom unglücklichsten zum verwirrtesten Menschen, den er kannte. Ein verschmitztes Grinsen ist hier wie an vielen anderen Stellen des Romans „Wunderlich fährt nach Norden“ von Marion Brasch kaum zu unterdrücken. Ein kurzweiliges Buch, obwohl nichts wirklich Spektakuläres passiert.
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Am Meer den Untergang herbeiträumen

Jörg W. Gronius rechnet in seinem Briefroman „Last Call“ mit der Welt ab
Von Renate Schauer

Ziemlich erfolgreich muss der Komödien-Autor Bruno gewesen sein, denn er kann von seinen Tantiemen auf einer kleinen Insel im Mittelmeerraum leben und in aller Ruhe die Widrigkeiten der Welt reflektieren. Adressat seiner Eindrücke und Gedanken ist sein Freund Richard. Jörg W. Gronius legt mit „Last Call“ einen monoperspektivischen Briefroman vor, bei dem wir seinem Protagonisten von April 2009 bis August 2011 über die Schulter und ins Gemüt schauen dürfen.

„Ich wache keinen Morgen auf, ohne …
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Spiel mit sämtlichen Sinnen

Zwölf Erzählungen mit Widerhaken von Nadine Kegele
Von Renate Schauer

Helene hat ihren Freund an Anna verloren, zu deren Hochzeit sie geht – über Pfützen und Regenwürmer. Eine Atmosphäre wie ein Magenschmerz. „Anna sein“ heißt die Erzählung, die ein kurzes Schlaglicht auf drei (Halb-) Schwestern wirft, denen eingeimpft wurde, dass ihre Existenz am Unglück ihrer einsamen Mutter schuld sei. Auch die anderen elf Erzählungen der Vorarlberger Nadine Kegele verfügen über die poetische Kraft, viele knapp gefasste Aspekte unter die Haut gehen zu lassen. „Annalieder“ sind – da hat der Klappentext unbedingt recht – keine Schönwettergeschichten. Sie deprimieren trotzdem nicht. Weiterlesen

Der Abgrund als Zwilling des Alltäglichen

Ferdinand von Schirach erzählt in „Carl Tohrbergs Weihnachten“ von logischen Entgleisungen

Schicksalhafte Ungeheuerlichkeiten nehmen den Leser des Bändchens „Carl Tohrbergs Weihnachten“ gefangen. Jede Zeile verdichtet die Atmosphäre und strebt einem Resultat zu, das schlicht das Prädikat „passt“ verdient. Zwar erhofft man sich, dass Lebenswege sich an solchen Abgründen vorbeischlängeln, wie sie Ferdinand von Schirach in den drei Kurzgeschichten erzählt, doch man weiß von Anfang an, dass hier unausweichlich etwas aus den Fugen gerät.

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„Eigenborstige“ Mitläufer-Erinnerungen

Joachim Geils Roman „Tischlers Auftritt“ reflektiert das Lebensgefühl der 1970er-Jahre

Ernst Ewald Tischler führt sich nicht als sympathischer Mensch ein. Doch der Pfälzer wächst dem Leser über die knapp 500 Seiten des Romans ans Herz, indem er als Ich-Erzähler die 1970er-Jahre und ihr Flair fantasiereich vergegenwärtigt. Die Suche nach der Logik seiner eigenen Lebensgeschichte säumt den Weg ins TV-Kochstudio zu „Tischlers Auftritt“, der titelgebend wird, da er den Protagonisten endlich über das Mitläufertum hinausheben soll, das ihm seit den 1968er-Jahren anhaftet. Das hat sich der Autor Joachim Geil fein ausgedacht.

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Woher der lange Eugen seinen Namen hat

„Nachrichtenzeit“: Wibke Bruhns’ Erinnerungen sind eine wahre Fundgrube für politisch Neugierige

Persönliche Marotten, Verstrickungen und Schicksalsschläge scheinen bei der Fülle von Erlebnissen und Begegnungen, auf die Wibke Bruhns in den „unfertigen Erinnerungen“ zurück blickt, nur Beiwerk zu sein. Die Journalistin erzählt in „Nachrichtenzeit“, was man von diesem Berufsstand erwartet: interessante „Geschichten hinter den Geschichten“.

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Hannas Reportage über den „arabischen“ Macho

Sophie Albers stellt in ihrem Roman „Wunderland“ Stereotypen auf die Probe
Von Renate Schauer

Was macht eine Journalistin, die ihr Thema nicht hinreichend in einer Zeitungsreportage unterbringt? Richtig – sie schreibt ein Buch. Sophie Albers, Kultur-Redakteurin bei „stern.de“, schuf so den Roman „Wunderland“. Vermarktet wird er als „bestechend literarischer Blick in unsere ‚Parallelgesellschaft'“. Ein Blick, der die Protagonistin Hanna in innere Konflikte stürzt.
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Epikur schlägt Luxusleben

Kerstin Maria Pöhler konzipiert einen Mann, der „Einen Sommer lang“ mit seiner Sinnsuche Missverständnisse provoziert
Von Renate Schauer

Ingrid und Leonhard Zepp haben sich auseinandergelebt. Da ihnen Arbeit, Wohlstand und schöne Arrangements zur Selbstverständlichkeit geworden sind, merken sie die entstandene Kluft erst, nachdem ihre Firma verpachtet ist und der Ruhestand altgewohnte Routinen in verändertem Licht erscheinen lässt. Die Autorin Kerstin Maria Pöhler konzentriert sich in ihrem Romandebüt „Einen Sommer lang“ auf die Entwicklung des Mannes, der sich auf die Sinnsuche begibt, von Familie und Luxusvilla abrückt.
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Die Würze des Lebens zeigt sich bei jedem anders

Camille de Peretti erzählt in „Wir werden zusammen alt“ einen Sonntag in einer Pariser Seniorenresidenz
Von Renate Schauer

Der Roman führt durch einen Sonntag in einer Seniorenresidenz, ohne dass es anstrengend, heikel oder öde wird. Man vergesse alle Vorurteile über Altersheime – hier lebt auf jedem Quadratmeter die Eigenständigkeit des Augenblicks. Kurzweilig wird über 64 Kapitel von Bewohnern, Besuchern und Angestellten erzählt. Rund um den Empfang ist „alles gelb tapeziert“, die Briefmarkensammlung des Direktors beträgt zwanzig Alben, mit Josy aus Guadeloupe tanzt der Putzlappen Walzer und mittags wird Wein serviert – „ein Rachenputzer in Karaffen aus Supermarktkristall“.
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Den Journalismus plagen Glaubwürdigkeits- und Finanzierungsfragen

„Journalismus nach der Krise“ lotet Unschärfen, Untiefen und Ungereimtheiten aus
Von Renate Schauer

Viel ist in den letzen 20 Jahren darüber geklagt worden, dass das System Journalismus in ho-hem Maße reformresistent sei. Zu sehr hielten seine Vertreter an veralteten Ritualen fest, um sich gegen Begehrlichkeiten zu schützen, mit denen sie tagtäglich konfrontiert werden. Gleichzeitig wuchs die Debatte um Qualitätssicherung im Journalismus, ohne dass deren Auswirkungen die Rezipienten bei der Stange hielten. Sie konnten und können sich anderswo offenbar leichter oder besser bedienen als bei den althergebrachten Zeitungen, denen zuvor schon Werbekunden Budget entzogen hatten. Dazu kommt, dass viele gute Journalisten in die PR-Branche abwandern, oft um einer angemessenen Bezahlung willen. Festangestellte Redak-teure zittern neuerdings vor den Rationalisierungsmaßnahmen der Manager; Freiberufler sehen sich schrumpfenden Honoraren und anderen Widrigkeiten gegenüber. Vor diesem Hinter-grund befragten zwei junge Insider 22 Chefredakteure und Medienexperten zu „Journalismus nach der Krise – Aufbruch oder Ausverkauf?“

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Ausgedientes markiert nicht das Ende

Jens Steiner verwebt das Müll-Sortieren mit der Chance für Erkenntnisse und Ambitionen

Von Renate Schauer

Würden Sie einen Hoffnungsträger auf einem Recylinghof suchen? Spätestens mit dem jüngsten Roman von Jens Steiner wird klar: Diese Spezies hat nicht zwangsläufig mit Schlips und weißem Kragen und lukrativer Karriere zu tun. Abseits imageträchtiger Rennbahnen gibt es auch den leisen, unauffälligen Typus, der genau beobachtet und hinter die Dinge schaut, der sich einfügt und trotzdem philosophischen Überlegungen Raum gibt. Zukunftsbezogene Zielstrebigkeit muss nicht sein. Das Leben im Hier und Jetzt bietet genug spannende Gelegenheiten, sowohl Zusammenhänge als auch Gegensätze sinnstiftend einzuordnen und gegebenenfalls zu lenken. Steiners Roman Mein Leben als Hoffnungsträger generiert Sympathie für die Generation „Weiß noch nicht“.
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Schweigen ist oberste Wirtstocherpflicht

Ingried Wohllaib entlarvt „Lebenszeitdiebe“ der 50er Jahre in ihrem Roman „Gasthauskind“
Von Renate Schauer

Sie „hörte von allen Intimitäten des Dorfes in der denkbar derbsten Version“ und musste trotzdem Respekt vor den Erwachsenen aufbringen. Isabell, das „Gasthauskind“, wächst in der Wirtschaftswunderzeit in der süddeutschen Provinz auf und erlebt die Härten einer Tochter, auf deren Arbeitskraft die Mutter angewiesen ist. Der Vater verdient sein Geld als Viehhändler, ist schweigsam und ungewöhnlich. Packende Milieu-Schilderungen in eindringlicher Sprache erwarten den Leser des Romans von Ingried Wohllaib.
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Die Maske war seine Aufgabe

Biografie würdigt Theo Lingen als vielseitigen „Medien-Menschen“

Von Renate Schauer

Distanziertheit war ihm auf den Leib geschrieben, die perfekt-komische Note des näselnden Dieners ebenfalls: Theo Lingen galt über Jahrzehnte auf der Bühne und im Film als Zugpferd. „Der Schauspieler schien immer um einiges größer als seine Rolle“ – wie verdient diese Einschätzung ist, belegen Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen in ihrer Biografie „Theo Lingen. Das Spiel mit der Maske“.

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Verdrängen belastet

Das Leben der Monika Göth

Von Renate Schauer

lieben wollen, obwohl man ihn nie kennen gelernt hat. Noch dazu einen Vater, der unfassbare Verbrechen beging, dafür 1946 verurteilt und gehängt wurde. Doch da war ja auch die Mutter, die sich nachträglich (!) mit ihm „vermählen“ ließ, als bereits feststand, dass mit seinem Namen vor allem Schmach zu erwarten war. Die Rede ist von Ruth Irene Kalder und von ihrer Tochter Monika Göth, 1945 geboren.
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