Verliebt und weiterhin im Zwiespalt

Steffen Schroeder entführt in „Mein Sommer mit Anja“ beschwingt in die 80er Jahre

Der Mutigste ist Konrad nicht, doch er knickt nicht ein, wenn es gilt, Geheimnisse zu bewahren, Bewährungsproben zu bestehen und Freundschaft mit Schwächeren trotz der Frotzeleien anderer Teenies durchzuhalten. 13 oder 14 Jahre mag er jung sein, als er Anja begegnet, die so ganz anders ist als die albernen Mädchen, die er sonst so kennt. Aus seiner Perspektive erleben wir einen Sommer in München – 1980er Jahre, gesichertes Milieu, bereit für vergnügliche Ferien und neue Erfahrungen. Autor Steffen Schroeder trifft das Zeitkolorit und die Stimmung des planlosen Hineinwachsens in Hausforderungen, mit denen das Erwachsenwerden Fahrt aufnimmt. Mein Sommer mit Anja erzählt von Freundschaft, zarter Verliebtheit und Verrat.

Drei Hauptakteure tragen die Geschichte: der Normalo Konrad, Holger – ein 17jähriger mit Handicap – und Anja, die auftaucht, als der geliebte Buntspecht begraben werden muss. Die Jungs haben ihn oft bewundert in ihrem Versteck zwischen Büschen und Sträuchern, wo sie in den Himmel blickten und „abhingen“, wie man heute sagen würde. „Handicap“ ist damals als Bezeichnung noch nicht in aller Munde, sondern Holger gilt schlichtweg als behindert bzw. zurückgeblieben. Diskriminierungen durch Gleichaltrige bleiben nicht aus, was die Frage nach Solidarität aufwirft, da Konrad ja „dazugehören“ will und trotzdem eine geheime Kraft ihn davon abhält, sich auf die Seite der gemeinen Quälgeister zu stellen.

Eine Situation wie ein schwankendes Boot skizziert Schroeder hier. Dieses Stilmittel gelingt ihm im Verlauf des Romans immer wieder. Damit zeigt er jene Zwiespältigkeit auf, die dieser Lebensphase eigen ist, in der es tastende Experimente, kleine Siege, aber kein Heldentum gibt. Die andere Stärke dieses Buchs ist, wie das Flair der 80er Jahre vermittelt wird: Wenn die Top Ten im Röhrenradio präsentiert werden, darf man nur auf Zehenspitzen durchs Haus gehen, weil der große Bruder die Titel mit dem Kassettenrekorder per Mikrofon auf eine „frische Chrome-BASF-Kassette“ aufnimmt. Feinde dieser Aktion sind Verkehrsmeldungen oder plappernde Moderatoren, die zwischenreinplatzen. Und dass ein Fernseher ohne aufzustehen ein- und ausgeschaltet werden kann, ist noch ein Privileg von Haushalten mit gehobenem Einkommen.

Es ist einfach nett zu lesen, wie die Jungs sich ihr Taschengeld im Freibad „Floriansmühle“ am Eisbach aufbessern: regelmäßig luchsen sie den kartenspielenden Rentnern Pfandflaschen ab, für sie mutiert Konrad auch gerne zur Jukebox und singt auf Bestellung deren Lieblingssongs, die er auswendig kann. Geschrieben ist das unaufgeregt und in klaren Sätzen. Der Autor beweist ein Gespür für Witz und Glaubwürdigkeit, leuchtet die Schauplätze sensibel aus und setzt die Schnitte mit dramaturgischem Geschick. Nur einmal irritiert er – als er dem erwachsenen Konrad unvermittelt zwei Seiten mit Ehe-Kater und Joggen widmet, wirkt das deplatziert.

Das Abweichen von der Norm begegnet uns nicht nur in Holger, sondern auch in Anja, die bereits Härten des Lebens kennengelernt hat, die sich Konrad gar nicht vorstellen kann. Ein trotziges Mädchen, das Regeln bricht und „wild“ lebt. Aus gutem Grund gibt Anja über sich nur sehr wenig und das sehr zögerlich preis. Wo in einer Dreiecksfreundschaft eine Person auf Geheimnissen basiert, pflanzen sich diese fort; Konrad verliebt sich, bringt Anja heimlich Essen und muss – anders als früher – daheim öfter mal zu einer Lüge greifen. Nicht zuletzt befruchtet das seine Reflexion über sich in Bezug auf die Welt. Die Leichtigkeit der Erzählung leidet nicht darunter.

Die Figuren sind schlüssig konzipiert. Besonders die des Holgers ist hervorragend gelungen. Dem fein austarierten Miteinander der drei muss jedoch noch ein Abenteuer die Krone aufsetzen: die Erkundung des Zeltlagers von Stadtstreichern, die Eindringlingen nicht gerade zimperlich begegnen. Dieses Abenteuer nimmt einen glimpflichen Ausgang – im Gegensatz zu einer Asti-Spumante-Bootsparty mit dem Credo „Ich will einfach sein wie alle anderen.“

Steffen Schroeder schürft in die Tiefe, ohne in der Schwere zu landen. Es scheint ihn zu interessieren, Was alles in einem Menschen sein kann. So heißt sein erstes Buch, das 2017 seine Erfahrungen als Vollzugshelfer eines verurteilten Mörders zusammenfasst. Bekannt ist er einem breiten Publikum als Schauspieler, der unter anderem in der Serie SOKO Leipzig als Oberkommissar auslotet, wie vielfältig das Spannungsfeld zwischen Tätern und Opfern gestrickt sein kann.

 

Steffen Schroeder: Mein Sommer mit Anja.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020.
203 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100717