Der Roman führt durch einen Sonntag in einer Seniorenresidenz, ohne dass es anstrengend, heikel oder öde wird. Man vergesse alle Vorurteile über Altersheime – hier lebt auf jedem Quadratmeter die Eigenständigkeit des Augenblicks. Kurzweilig wird über 64 Kapitel von Bewohnern, Besuchern und Angestellten erzählt. Rund um den Empfang ist „alles gelb tapeziert“, die Briefmarkensammlung des Direktors beträgt zwanzig Alben, mit Josy aus Guadeloupe tanzt der Putzlappen Walzer und mittags wird Wein serviert – „ein Rachenputzer in Karaffen aus Supermarktkristall“.
Les Bégonias in Paris ist kein Haus gehobener Klasse. Es ist aber gepflegt und bietet sogar Cola light im Automaten. Mehr Frauen als Männer sind dort anzutreffen, der markanteste ist der selbsternannte Kapitän Dreyfuß, dem sogar unbemerkt ein Fluchtversuch gelingt. Andere vertreiben sich mit den Klatschgeschichten der Regenbogenpresse die Zeit, warten auf Besuch oder verlieben sich sogar. Eine bunte Mischung von Charakteren bringt uns die Autorin näher.
Jede Viertelstunde beginnt ein neues Kapitel. Die Blickwinkel, die zu Tage treten, sind sehr unterschiedlich, aber stets mit einem Augenzwinkern oder gar einem Schuss Humor skizziert. Es geht um Erinnern und Vergessen, Zuwendung und Eifersucht, Beziehungen, Eigensinn und Einzelgängertum. Die Geschichten sparen missliche Befindlichkeiten und Zustände nicht aus, wahren jedoch die Balance zwischen Komik und Tragik. Banales rangiert neben Gewichtigem, des Lebens Würze zeigt sich bei jedem anders, Langeweile und Labilität inbegriffen.
Alt und Jung stehen sich gegenüber. Zum Beispiel, wenn die 25-jährige Camille ihre Großmama Nini besucht, die im Rollstuhl sitzt und auch als „altes Mädchen“ noch „unregierbar“ ist. Ein Querkopf eben, kettenrauchend und auch sonst nicht so, wie man sich jemanden vorstellt, den es in so ein Quartier verschlagen hat. Die Enkelin macht sich Vorwürfe, dass sie sich nicht mehr um „die gute Fee kümmert, […] die ihr so viel gegeben hat“. Sie ekelt sich vor Alterserscheinungen und überwindet sich zu den Stippvisiten in der Residenz, um anschließend wieder „zwei Wochen Ruhe“ zu haben.
Anders herum lassen uns Nini und andere Bewohner teilhaben an ihrem Leben und ihrer einstigen Erscheinung, als sie noch in ihrer Blüte standen. Nini war beispielsweise eine bedeutende Anwältin, andere geben über ihre Alpträume frühere Misshandlungen preis. Und wir erfahren von einer einst untreuen Schönen, die nun die hingebungsvolle Fürsorge ihres Ehemannes nicht genießen kann, weil sie in ihrer Verwirrtheit glaubt, er sei ihr Liebhaber. So dominiert die Angst vor Entdeckung, die Warnungen an den „Liebhaber“ vor dem möglichen Auftauchen des Ehemannes sind für selbigen natürlich schmerzlich. Kurz: die ProtagonistInnen sind mit einer Vielfalt an Facetten dargestellt und keinesfalls auf ihr Dasein in dieser Lebensphase im Altersheim reduziert. Beachtlich für eine Autorin, die heute erst ihren 30. Geburtstag feiert!
Ungewöhnlich ist überdies die Disziplin, mit der sich Camille de Peretti einem Regelwerk unterwirft: Formal wendet sie den Rösselsprung an und folgt den Euler’schen Quadraten 10. Ordnung sowie „Listen mit den darauf vorgegebenen Elementen“ (Requisiten). Dieses Schema wird im Anhang ausführlich erläutert (unter anderem vom Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel) und stellt eine Hommage an Georges Pérec dar, der „Das Leben nach Gebrauchsanweisung“ (in einem Mietshaus am 23. Juni 1975 gegen acht Uhr abends) nach diesem Muster konzipierte. Idealerweise bemerkt man beim Lesen dieses „Strickmuster“ nicht. So ist es auch bei dem Roman „Wir werden zusammen alt“, der keinem Handlungsstrang folgt, sondern Szenen aneinander komponiert, die immer Überraschendes bieten und somit bis zum Schluss um 0.45 Uhr an diesem Sonntag in der Les Bégonias eine gewisse Spannung aufrecht erhalten.
Camille de Peretti: Wir werden zusammen alt. Roman. Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 288 Seiten, 19,95€, ISBN-13: 9783498053079