Was macht eine Journalistin, die ihr Thema nicht hinreichend in einer Zeitungsreportage unterbringt? Richtig – sie schreibt ein Buch. Sophie Albers, Kultur-Redakteurin bei „stern.de“, schuf so den Roman „Wunderland“. Vermarktet wird er als „bestechend literarischer Blick in unsere ‚Parallelgesellschaft'“. Ein Blick, der die Protagonistin Hanna in innere Konflikte stürzt.
Hanna Perrson, 35, wie die Autorin Journalistin in Berlin, hat ihrem Chef „ein umfassendes Porträt aus inside Neukölln verkauft: der Prototyp eines Mannes, vor dem alle Angst haben, den aber keiner wirklich kennt“. Tamer, Sohn eines Palästinensers und einer Deutschen, ist stolz darauf, ein Berliner zu sein, ein gebürtiger sogar. Dennoch nennt er sich „Araber“, denn fast alle identifizieren ihn aufgrund seiner Hautfarbe als solchen. Der Unterschied zwischen ihm und seiner Interviewerin: „Seine Identität ist geformt von diesem Blick von außen, während die meine sich all die Jahre am eigenen Blick auf das Innere entlangentwickelt hat.“
Hanna stammt aus liberalen Kreisen und entdeckt, dass ihre Welt auf ganz andere Weise hinterfragbar ist als sie dachte. Sie hat deshalb Mühe, Distanz zu Tamers Sichtweise zu halten. Teilweise ist sie von ihrem Gegenüber ungewöhnlich stark beeindruckt, denn punktuell spürt sie bei ihm mehr Ehrlichkeit, als sie je bei Ihresgleichen erfahren hat: „Nicht nur den Dingen nimmt Tamer die Verpackung, nein, er legt auch das Wesen der Menschen frei, damit sie zeigen, wie sie wirklich ticken.“ Obwohl er unverkennbar ein „Macho“ ist, fasziniert sie sein einfacher „Blick auf die Dinge“. Deshalb fantasiert sie sich einen kleinen Tamer in den Kopf, der bei all ihren Schritten „seinen Senf“ dazu gibt. Diesen Zustand nennt sie „verliebt“, weiß aber, dass sie sich einen Tamer zurechtgeschnitzt hat, den es so in der Wirklichkeit nicht gibt.
Zu Tamers Unumstößlichkeiten gehört das Ideal von der eigenen Familie, die bedingungslose Liebe zu seiner Heimat Berlin und dass sich Freunde für einander ohne Wenn und Aber die Hand abhacken lassen. Ein Kapitel heißt „Deutsche sind feige“. Das ist Tamers Meinung. Seine Ausdrücke entlehnt er oft der „untersten Schublade“ – selten ist er freundlich oder zuvorkommend. Die Strecke in Hannas Blickfeld ist seine letzte – damit eröffnet Sophie Albers ihren Debüt-Roman.
Dieser bleibt dem Charakter einer Reportage verhaftet. Zuspitzungen und raffinierte Vielschichtigkeit hätte der Stoff durchaus hergeben können. Doch die Autorin verzichtet darauf, bevorzugt das Leise, Schlichte, Unaufgeregte. Ihre Hanna ist überrascht, dass sie mehr über das reflektiert, was die Begegnung in ihr auslöst, als dies bei Profis in ihrem Metier üblich ist. Beruflich erntet sie Kritik dafür, dass sie sich Tamer unter die Haut gehen lässt. Einer in Kriegsgebieten erprobten Berichterstatterin entfährt sogar: „Bist du wahnsinnig, das ist doch gefährlich“. Sie beharrt darauf, die Welt in Tamers Kopf zu beschreiben, damit plausibel wird, „warum er so ist, wie er ist“.
Zwangsläufig muss sie sich deswegen auf ihr Sujet tiefer einlassen und damit das innerliche Unbeteiligtsein – das Profis gerne zugunsten von „Objektivität“ im Journalismus reklamieren – vernachlässigen, um sich mit der zweischneidigen Welt („Wunderland“) des Berliner „Arabers“ zu konfrontieren, der als Moslem das mit der Kollektivschuld beladene Deutschland ganz anders einordnet als die Jüdin Hanna. Unterschiedliche Konflikte sind gleichzeitig präsent: dem Beruf genügen, eigene Gewissheiten auf den Prüfstand stellen, Abneigung gegenüber Abstoßendem neutralisieren, dem Faszinierenden nicht auf den Leim gehen und ebenso nicht der Sehnsucht nach der Einfachheit erliegen. Da es nur einen glaubwürdigen Antagonisten, Arthur, gibt, den Hanna wenige Male anruft, werden hochkarätige Differenzierungen den Nachbetrachtungen der RezipientInnen überlassen. So nachdenklich die Hauptfigur zwischendurch auch sein mag – sie findet keinen Ausweg aus der Erschütterung ihrer Gewissheiten.
Sophie Albers hat – so sagte sie in einem Interview mit UNISCENE – diese Geschichte aus Wut begonnen, als 2006 „wild über die Rütli-Schule diskutiert“ wurde. Den väterlichen Freund Arthur lässt sie am Ende des Romans sagen: „Ich glaube, du hast die Perspektive verloren. Danach solltest du suchen gehen“. Damit ist Hannas Entwicklung während ihrer Begegnungen mit Tamer umrissen. Die Aufklärung, wie Tamer & Co. ticken, gelingt nur in Ansätzen, wobei nicht alle Szenen der Klischeehaftigkeit enthoben werden.
Die Disziplin des genauen Hinsehens, ohne die Schablone der eigenen Maßstäbe sofort einzuschalten, macht die Lektüre reizvoll. Spannend bleibt stets, wie viel Tamer sich entlocken lässt beziehungsweise was davon wirklich taugt, um „das Fremde“ besser verstehen zu lernen. Die Suche nach Klarheit prägt auch die Sprache. Sie zieht uns nahe heran an das Geschehen und was es auslöst. Als unterhaltsamer Debüt-Roman verdient die Geschichte mit ihrem leicht überschaubaren Erzählstrang Anerkennung. Ein Stoff, der seine Brisanz nicht so schnell verliert.
Sophie Albers: Wunderland. Roman. Knaus Verlag, München 2011. 176 Seiten, 14,99 EUR. ISBN-13: 9783813503982