Die Maske war seine Aufgabe

Biografie würdigt Theo Lingen als vielseitigen „Medien-Menschen“

Von Renate Schauer

Distanziertheit war ihm auf den Leib geschrieben, die perfekt-komische Note des näselnden Dieners ebenfalls: Theo Lingen galt über Jahrzehnte auf der Bühne und im Film als Zugpferd. „Der Schauspieler schien immer um einiges größer als seine Rolle“ – wie verdient diese Einschätzung ist, belegen Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen in ihrer Biografie „Theo Lingen. Das Spiel mit der Maske“.

Theo Lingen starb vor 31 Jahren und ist den Jüngeren vielleicht noch aus Paukerfilmen wie „Die Lümmel von der ersten Bank“ oder aus der „Feuerzangenbowle“ in Erinnerung. Dass er jedoch engagiert war in Stücken von Lessing und Schiller über Shakespeare und Ipsen bis hin zu Gerhard Hauptmann und Dürrenmatt ist heute kaum mehr gegenwärtig. Er wirkte unter anderem mit in Fritz Langs berühmtem Film „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, gab den „Macki Messer“ in Brechts „Dreigroschenoper“, arbeitete mit Gustav Gründgens, Heinz Rühmann, Hans Moser, Werner Fink. Nach dem Krieg wurde er österreichischer Staatbürger und bald darauf Mitglied im Ensemble des Wiener Burgtheaters.

Mit Fleiß und Hingabe recherchierten Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen bislang unbekannte sowie in Vergessenheit geratene Fakten. Sie haben zahlreiche Quellen durchkämmt und so über mehr als 400 Seiten Glaubwürdiges zu Tage gefördert und mit 150 Seiten Anhang seriös belegt. Dennoch wird das Buch nicht Leser in Bann ziehen, die sich lediglich unterhaltsam über Theo Lingen informieren möchten. Man muss schon echte Leidenschaft für die Theaterwelt und -geschichte mitbringen, um bei der Stange zu bleiben während der ausdauernden Spurensuche in Graswurzelmanier. Als Belohnung fürs Durchhalten darf man sich aber über die Beleuchtung wirklich erstaunlicher Facetten freuen, die bis hin reicht zur Philosophie über die „göttlichen Frechheit des Angeschautwerden-Könnens und Des-dem-Blicke-Standhaltens“ (wie Kafka es um 1919 ausgedrückt hatte).

Möglicherweise ist es nicht nur die reichhaltige Quellenlage, die die Stofffülle nährte. Es könnte auch sein, dass die Figur Theo Lingen selbst reizte, sich seiner mittels vieler, vieler Worte zu bemächtigen. Denn erstens galt Lingen nicht als besonders auskunftsfreudig, vielmehr wusste er sich und die Seinen sehr gut vor der Öffentlichkeit zu schützen. Und zweitens kann man sich selbst posthum an dem Spiel mit der Maske vortrefflich festbeißen. Denn die Maske, an sich etwas Festes, birgt trotz der vordergründigen Starre Virtuosität, Leidenschaft, Geheimnisse. Man möchte der Maske nicht auf dem Leim gehen und sucht dahinter, was es an Qualitäten hervorzuheben lohnt. Und bei Theo Lingen haben die Autoren diesbezüglich jede Menge entdeckt und enthüllt.

Dazu kommt, dass Franz Theodor Schmitz, der sich den Geburtsort seines Vaters als Künstlernamen gab, sich selbst als einen „Komiker aus Versehen“ bezeichnete. Dass so ein „Versehen“ den Lebensunterhalt sichert, perfektioniert und zum Markenzeichen wird, zwingt geradezu zum Blick hinter die Kulissen, die Zeitläufe versprechen überdies einige Gratwanderungen im Privatleben: Schließlich heiratet Theo Lingen 1928 die österreichische Schauspielerin und Sängerin Marianne Zoff, ohne später mit Berufsverbot belegt zu werden, obwohl sie als Halbjüdin gilt. Sie bringt aus ihrer ersten Ehe mit Bert Berecht die Tochter Hanne mit, was deren leiblichem Vater ganz und gar nicht behagt. Schmähungen im Rosenkrieg sind die Folge. Trotzdem arbeiten Lingen und Brecht später sehr fruchtbar zusammen.

Von Lingen ist bekannt, dass er ein liebevoller Vater ist und sich als Familienmensch wohl fühlt. Die Neugier auf den Künstler wird obendrein davon geschürt, dass er seine Familie (Tochter Ursula kommt 1929 zur Welt) unbeschadet über die gefahrvollen Jahre führt, obwohl er den Machthabern des Dritten Reiches keineswegs nahe stand. Also muss er ein geschickter Taktierer gewesen sein, auch hier mag wieder die Maske geholfen haben. Eine Maske, die es ermöglicht, das Gesicht zu wahren, ohne es tatsächlich zeigen zu müssen – was, als besondere Ironie des Schicksals, auch für die Gegenseite gilt.

So erweist sich die Maske als vielfältiges Instrument, an dem man – wie im Falle Lingen – wachsen kann und zu hohem Ansehen kommt. Im Kollegenkreis wird Theo Lingen sowohl menschlich als auch hinsichtlich seiner künstlerischen Leistung viel Positives bescheinigt. Er hat sich in unterschiedlichen Sparten versucht – unter anderem als Conférencier bei Modenschauen, Amateurfilmer, Regisseur, Karikaturist, Kabarettist, Verfasser von Bühnenstücken und Operettenliberetti sowie als Moderator im Fernsehen.

Wie sich das alles zwischen 1903 und 1978 zutrug, wird nachvollziehbar, ohne dass dramatische Erzählkunst oder pointierte Zuspitzungen spannungstreibend wirken würden. Unaufgeregt verflechten sich Fakten, Kommentare sowie Überlieferungen. Gerade weil eine Fülle von Details akribisch aufgetischt wird, bedeutet die Lektüre eine Herausforderung zur sehr genauen Rezeption, damit die feinen Nuancen nicht nur pflichtschuldig zur Kenntnis gelangen, sondern als Bekräftigung der Weiterentwicklung des künstlerischen Spektrums verstanden werden. Der Versuch, Theo Lingen umfassend gerecht zu werden, liest sich nicht immer kurzweilig, ist aber ungeheuer informativ und erfreulich uneitel formuliert.

Wolfgang Jacobsen, Rolf Aurich. Theo Lingen. Das Spiel mit der Maske. Biographie. Gebunden, 551 Seiten, Aufbau-Verlag, ISBN 978-3-351-02668-4, € 24,95