Joachim Geils Roman „Tischlers Auftritt“ reflektiert das Lebensgefühl der 1970er-Jahre
Ernst Ewald Tischler führt sich nicht als sympathischer Mensch ein. Doch der Pfälzer wächst dem Leser über die knapp 500 Seiten des Romans ans Herz, indem er als Ich-Erzähler die 1970er-Jahre und ihr Flair fantasiereich vergegenwärtigt. Die Suche nach der Logik seiner eigenen Lebensgeschichte säumt den Weg ins TV-Kochstudio zu „Tischlers Auftritt“, der titelgebend wird, da er den Protagonisten endlich über das Mitläufertum hinausheben soll, das ihm seit den 1968er-Jahren anhaftet. Das hat sich der Autor Joachim Geil fein ausgedacht.
Im Umfeld von Frankfurter Schule und Frankfurter Kranz erproben sich junge Leute – Tischler ist auch dabei – in einem Laientheater und wählen als Stück „Marat/Sade“ von Peter Weiss. Es lebt von dem Konflikt zwischen Revolutionär und Genussmensch, zwischen Individualismusstreben und sozialer, politischer Umwälzung. Es spielt auf mehreren Ebenen und bedient sich grotesken, absurden und verfremdenden Elementen. Beides sind auch Stilelemente in „Tischlers Auftritt“.
Bezüge zwischen Mitgliedern der studentischen Schauspieltruppe und den Figuren des Stücks, das ja auf einem historischen Stoff beruht, gelingen Joachim Geil auf äußerst subtile Art. Seine künstlerische Freiheit spielt er virituos aus, indem er überraschende Anklänge stiftet zwischen den historischen Akteuren und deren Darstellern, den Vertretern des Zeitgeists der 1970er-Jahre des 20. Jahrhunderts – ein besonders augenfälliges Beispiel ist die schöne Uschi und ihre Rolle als Charlotte Corday. Ein gewitztes Unterfangen mit Charme und Esprit, das einem in verwandter Spielart an mehreren Stellen des Romans begegnet!
Erstaunlich früh, nämlich schon auf Seite 20, wird verraten, wie die „revolutionäre Tat“ des in die Jahre gekommenen, unheilbar krebskranken Tischlers von statten gehen soll. Der Plan ist dazu angetan, alle als Komplizen zu gewinnen, die in mindestens einer Phase ihres Lebens das Fernsehen als Medium für schuldig am „allgemeinen Niedergang“ einstuften oder manche Programmteile immer noch „zum Kotzen“ finden. Als solches soll die Kochshow vorgeführt werden; eine Rache, die dem TV-Betrieb im übertragenen Sinne den Spiegel vorhalten will, die Verantwortlichen wachrütteln soll.
Diese symbolische Handlung – ob sie gelingt oder nicht – soll quasi kompensieren, dass einst eine gute Portion Elan zur Überwindung von engstirniger Kleinbürgerlichkeit und spießiger Verklemmtheit in beobachtender Ambivalenz stecken geblieben war. Der Ich-Erzähler Ernst Ewald bekennt, dass er hätte entschiedener und vor allem aus sich selbst heraus initiativ werden sollen, um den gesellschaftlichen Umbruch mit voranzutreiben.
Nur eine Aktion, die Bewunderung erntet, inszeniert er – bis ihm der Duft von Königsberger Klopsen die Widerstandskräfte raubt. Ansonsten ist er „gegen alles, was dir von außen aufgedrängt scheint, eigenständig bis widerständig, eigenwillig bis widerwillig“ und erfindet dazu das Wort „eigenborstig“. Er „tischlert“ diesen Ausdruck, spielt gerne mit Sprache und Assoziationen, was dem Roman Ironie verleiht und Leichtigkeit wie Vieldeutigkeit sichert.
Es liegt wohl in der Natur eines Mitläufers, dass er weniger plastisch, farbig und lebendig charakterisiert zu sein scheint, als seine Eindrücke beim Mitstolpern durch die Ereignisse wirken. Da fehlt ein bisschen Fleisch und Blut. Dafür entschädigen jedoch die Eleganz seines Reflektierens sowie seine feinsinnigen Fantasien und Assoziationen. Der „Eigenbrötler, der auch dem Widerstand widerstand“ – wie es im Klappentext treffend heißt – beschenkt uns getreu seiner Einsicht: „Erinnerungen müssen einen überkommen und dann mitnehmen, entführen“, mit einer Vielzahl an Reminiszenzen: Hegel, Adorno, Krahl, Dutschke, Prof. Barnard und seine erste Herztransplantation in Kapstadt, Ulrike Meinhof, Büchner, Kafka, „Dr. Schiwago“. Mit diesen und weiteren Zeitgenossen „tischlert“ Joachim Geil durch die Brille seines Ernst Erwin einen eigenwilligen Blick auf die heiklen Jahre zwischen Schah-Besuch und Stammheim-Prozessen. Manchmal kommt der Ritt durch die Vergangenheit tatsächlichen Überlieferungen von damals sehr, sehr nahe – wie beispielsweise der Verbindung zwischen dem Philosophen Theodor W. Adorno und seinem Schüler Hans-Jürgen Krahl, den Geils Protagonist beneidet.
Tischler, der zunehmend gewissen Gaumenfreuden frönt und dies irgendwann auch beruflich zu seinem Markenzeichen umzumünzen versteht, ist niemand, an dem die sich Geister scheiden. Sein Quäntchen Quertreiber-Denken ist tolerabel. Da gibt es andere, die wesentlich näher an die Grenze der gesellschaftlichen Akzeptanz geraten: immer wieder ist von „Tüten“ die Rede, die geraucht werden und einen herrlich entrückten Zustand bescheren, was ja Kontakt zu illegalen Kanälen genauso impliziert wie später die eine oder andere Pistole. Auch der Kontrast der Bundeswehr mit dem Schwulsein wird in eine sehr persönliche Beziehung eingebaut. Tischlers glaubhafte Stützen sind der schillernde Onkel Willi (er hatte sich zuletzt dem Krieg entzogen) und die Mutter, die es mit dem faschistischen Vater aushält, der letztlich fernsehkrank wird.
Joachim Geil fällt zum zweiten Mal mit seiner Gabe auf, sich einfühlsam in Zeiten zurück zu versetzen, die er als 1970 Geborener nur vom Hörensagen und aus der Literatur kennen kann. Schon sein Roman-Debüt „Heimaturlaub“ brachte ihm Anerkennung, und für einen Auszug aus „Tischlers Auftritt“ erhielt er 2011 den Georg-K.-Glaser-Förderpreis. An manchen Stellen ist dieser Roman freilich nichts für Ungeduldige. Einige Straffungen hätte er sicher unbeschadet überstanden, aber der Luxus des Wucherns mit Szenen und des Entfaltens immer weiterer Gedankenwolken ist trotzdem „gut getischlert“.
Joachim Geil: Tischlers Auftritt. Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2012.
480 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783869305127