Jenny Offills Roman „Wetter“ destilliert knappe Alltags- und Gedankensplitter
Man mag von „schlankem Erzählen“ angetan sein, einen Spannungsbogen verheißt das Auffädeln von knappen Beobachtungen und Gedanken in dem Roman Wetter aber nicht. Die leise Grundmelodie bildet der Ruin unseres Planeten. Darüber legt die US-Autorin Jenny Offill etliche Banalitäten des Alltags, die einen Gutteil der Textschnipsel für sich beanspruchen. Andere Schnipsel öffnen Blickschneisen auf Phänomene und Hintergründe, die über die angestammte Erlebenswelt der Ich-Erzählerin Lizzie hinausreichen und ausgiebigen Recherche-Fleiß belegen. Das ist das eigentliche Plus dieses Buches: es scheint aufzusammeln, was in der Luft liegt, aber nicht breit getreten werden soll, damit die „Weltuntergangszuflucht“ doch noch gefunden werden kann.
Lizzie Benson ist nicht flatterhaft, springt aber mit ihrem Interesse mal hierhin, mal dahin. Ihre Pflichten stecken jedoch einen festen Rahmen: Da ist ihr Ehemann Ben, der Bildungsvideospiele entwickelt, der kleine Sohn Eli, der ihre Aufmerksamkeit braucht, sowie der Job als Bibliothekarin, für den sie formal nicht ausgebildet ist. Für ihren Bruder, ein Ex-Junkie, hat sie stets ein offenes Ohr und gelegentlich auch ein Nachtquartier. Ihre Mutter, um die sie sich sorgt, lebt von einer winzigen Rente, kauft aber trotzdem für Obdachlose „haufenweise Socken“, die sie obendrein gerne mit einem Dollarschein übergibt.
Und weil das alles noch nicht genug Fürsorge fordert, beantwortet Lizzie für ihre frühere Professorin Zuschriften zu deren Podcast, der sich mit Klimawandel und anderen alarmierenden Entwicklungen beschäftigt. Selbst in ihrem Meditationskurs hat sie keine Ruhe vor Fragen wie: „Eine Tomate ist genauso ein Lebewesen wie eine Kuh, oder etwa nicht?“ Sie scheint außerdem fähig zu „Spontanbündnissen“ mit Fremden und meint dazu: „Ich muss aufpassen. Mein Herz ist verschwenderisch.“
Es ist der zweite Roman von Jenny Offill, Jahrgang 1968, der ins Deutsche übersetzt vorliegt und dem viele Lobeshymnen vorauseilten. In Amerika wurde er zu den besten Romanen des Jahres 2020 gezählt. Gepunktet hat die Autorin wohl mit gerade diesen konzentrierten Wortmeldungen – einer Mischung aus persönlichen Lizzie-Szenen und kosmopolitischen Informationen. Überwiegend sind sie sehr kurz – oft nur wenige Zeilen, ähnlich Twitter-Nachrichten. Etliche verschränken sich nicht, führen nichts fort, kontrastieren auch nichts. Hier sitzt eine fragile Protagonistin mittleren Alters „im Zug nach nirgendwo“. Man folgt ihr, erwartet nichts Tröstliches und wird dergleichen auch nicht finden.
Stellvertretend für ähnliche Anspielungen sei hier ein Staccato aus dem sechsten Kapitel erwähnt: Verstrickt in Vorkehrungen für den Untergang infolge der Klimaerwärmung, hat Ben „alles berechnet, alles ausgerechnet, und jetzt hat er ein Epikur-Zitat über seinem Schreibtisch an die Wand gepinnt.“ Absatz. Dieses steht dann allein, als sollte es weitläufig über Lizzies Geschichte hinausragen: „‘Du bist nicht irgendein neutraler Beobachter / Bemühe dich.‘“ Absatz mit drei Sternchen. Die Autorin macht einen „Kameraschwenk“ und nimmt Bezug auf Katastrophenfilme. Da „sagt der Held immer: ‚Vertrauen Sie mir‘, und derjenige, der sterben wird, sagt: ‚Habe ich eine Wahl?‘“ Abgesetzt in einer neuen Zeile steht die Antwort „Nein.“ Absatz. „Das sagt der Held.“ Nun lässt uns die Autorin wieder mit drei Sternchen etwas Luft, bevor die Protagonistin mit ihrem Kind zum Spielplatz geht.
Zunehmend entwickelt sich Lizzie Richtung Prepper-Szene und studiert, wie die Vorbereitung auf jedwede Art von Katastrophen zu perfektionieren ist. Und das alles in New York in den Monaten vor und nach der Wahl Donald Trumps. Er wird nicht namentlich erwähnt, wohl aber das Atmosphärische geschildert, das mit dieser Entscheidung einhergeht.
Kein Wunder, dass in diesem Nebeneinander von Profanem, Weitläufigem und Wichtigem kurze, fragmentarische Anekdoten ein Stilmittel sind, das auflockert und nichts schwer werden lässt, zumal Lizzie als wissbegierig und neugierig konzipiert ist. Ob Mythen, psychologisches und naturwissenschaftliches Wissen, Temperatur-Prognosen für New York im Jahr 2047 oder Aussagen wie dass traditionell im Judentum Glück und Kummer gemischt sein müssen – Jenny Offill überrascht immer wieder mit Anklängen, die überzeugend in die Abfolge der Text-Fragmente eingewoben sind. Dezent dosiert sind Ironie und Witz, was angesichts apokalyptischer Tendenzen eher Seltenheitswert haben dürfte. The Guardian, New York, schreibt dazu am 13. Februar 2020: „Offill pulls us in close in order to make us worry about things outside us; mirrors the self to show us what we are selfishly ignoring.“
Er mag recht haben, da wir ja alle viele Alltagssplitter meistern müssen – unabhängig davon, ob wir uns um die Klima-Katastrophe sorgen oder nicht. Vielleicht ist das das Geheimnis, warum wir Lizzie über sechs Kapitel folgen und es letztlich fast doch noch ein geschmeidiges Leseerlebnis wird – auch wenn die ungewöhnliche Erzählstruktur etwas Toleranz erfordert. Entlassen werden wir jedoch mit einem Link, der uns weiter beschäftigen könnte: Dort geht es um die Frage: Wie können wir uns eine Zukunft vorstellen und schaffen, in der wir leben wollen? Die Bildergalerie stellt „Menschen mit Gewissen“ vor, darunter unter anderem Sophie Scholl, White Rose.
Jenny Offill: Wetter.
Aus dem Englischen von Melanie Walz.
Piper Verlag, München 2021.
224 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783492070577