Alles bestens – bis der Flugschein ausbleibt

Kristine Bilkau erhebt „Eine Liebe, in Gedanken“ zu einem kostbaren Kleinod, das über den Tod hinaus seinen Zauber behält

Von Renate Schauer

Eine erfolgreiche Architektin setzt sich mit dem Nachlass ihrer Mutter auseinander. Im Zentrum steht deren Liebe in den 1960er Jahren, die nach der Verlobung ins Freischwebende geriet. Sie blieb dort wie eine Wolke hängen und nahm als Passivum unterschwellig Einfluss auf die Realität, ohne sich mit ihr zu verschränken. Eine Liebe, in Gedanken ist ein leiser, dichter Roman von Kristine Bilkau, der auf mehreren Ebenen spielt und subtil die Zeichen der Zeit einfängt, die das Flüggewerden der Kriegskinder begünstigen, bevor die Bewegung der 68er einen anderen Wind in die Gesellschaft bläst.

Die Ich-Erzählerin versetzt uns mittels Liebesbriefen in das Geschehen von 1964 bis 1967, sodass wir unmittelbar teilhaben an der behutsamen Annäherung zwischen ihrer Mutter Antonia (Toni) und Edgar Janssen, der bald beruflich in Hongkong sein Auskommen sucht. Toni soll nachreisen und schickt Bewerbungen in die Metropole. Als er sie via Telegramm bittet, Arbeitsstelle und Wohnung zu kündigen – „Flugschein folgt“ –, tut sie das und rettet sich über mehrere Monate in verschiedenen Provisorien, bevor sie das Warten satt hat.

Das Zurechtkommen im Schwebezustand behält Antonia bei – so rekapituliert es die aus einer späteren Ehe hervorgegangene Tochter. Denn die Mutter heiratet zwei Mal, kommt noch – wie auch Edgar im fernen Honkong – zu bürgerlichem Familienglück, obwohl sie ihrer „Liebe in Gedanken“ nie abschwört, sondern es sich sogar zur Gepflogenheit macht, einmal im Jahr an Janssens Elternhaus vorbeizufahren, um zu sehen, ob er dort zu Besuch ist.

Es lässt der Tochter keine Ruhe, sie will Edgar Janssen aufspüren und ihm sagen, dass Antonia gestorben ist. In ihrer Trauer sehnt sie sich nach dem Glück der beiden, möchte es der „Mutter zurückgeben können. Wie ein verloren geglaubtes Schmuckstück, das immer vermisst und nie vergessen worden war.“ Wehmütige Anteilnahme schwingt hier mit. Im Gegensatz zur Risikobereitschaft und den Unwägbarkeiten in Tonis Leben gibt es bei der Tochter keine heftigen seelischen Achterbahnfahrten, alles ist auf Sicherheit ausgerichtet. Bis jetzt. Doch auch für sie bricht eine neue Zeit an – ihre Tochter Hanna wird flügge, alte Muster werden aufgebrochen und neu gestaltet werden.

Die Rolle der Antonia ist die einer tüchtigen und geschätzten Büro-Angestellten auf der Aufstiegsleiter, die Konventionen der Nachkriegsgeneration geschickt umschiffend. Sie wohnt zur Untermiete und freut sich, wenn im Gemeinschaftsbad auf der Leine über der Wanne Platz für ihre Nylons ist, die sie im lauwarmen Wasser gewaschen hat. In jenem Becken, in das man auch den Waschlappen taucht, um sich von oben bis unten zu waschen. Herrenbesuch bis in die Nacht ist verpönt. Die Anti-Baby-Pille mag ihr der Arzt nicht geben, denn die „ist vor allem für Damen […], die schon genug Kinder haben.“ Toni rebelliert nur innerlich. Mit ihren 24 Jahren ist sie mutig, aber keineswegs aufmüpfig, doch wie alle Aufbruchswilligen ihrer Zeit einen Tick voraus.

Daneben Edgar – galant und höflich, taktvoll und äußerst vorsichtig. Er ist in seinem Arbeitsumfeld nicht anerkannt, verspricht sich aber auch nicht allzu viel von der Anstellung in Hongkong. Doch ein Ausweg ist es allemal. Da ihn aber Abenteuerlust nicht treibt und aus seinen Briefen keinerlei Begeisterung für Fernost zu herauszulesen ist, fragt man sich, ob er vielleicht aufbricht, weil er meint, er sei „keine gute Partie“, könnte diese aber unter erschwerten Bedingungen in Asien werden.

Ironie des Schicksals: Er hat schon einen Sohn, Alexander, der bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebt und nicht weiß, dass Edgar sein Vater ist. Man hat entschieden, ihn in geordneten Verhältnissen aufwachsen zu lassen, während Edgar sich fühlt „wie in einer Wartehalle. Noch nicht an der Reihe, derjenige zu sein, dem man zuruft, Edgar, jetzt beginnt dein Leben.“ Flieht er vor dieser Wartehaltung, ohne sich klar darüber zu sein, dass er sie mitnehmen würde? Oder hat er Angst, die Wohlanständigkeit noch einmal zu verletzen wie mit 19, als er „unüberlegt“ handelte mit der Tochter von Freunden seines Vaters?

Jedenfalls gibt er sein Muster des Nichtberufenwerdens an Toni weiter. Sie hat keine Handhabe dagegen. Seine Unentschlossenheit kann sie über eine erstaunliche Zeitspanne ertragen; dann reißt sie das Ruder herum und schlägt einen anderen Kurs ein.

Antonia hatte alles auf eine Karte gesetzt. Sie wusste, was sie wollte und stand dafür ein – Edgar machte sich und ihr seine Ambivalenz nicht rechtzeitig klar. Bei Antonia zeigt sich ebenfalls Ambivalenz, jedoch nachgeordnet und in abgeschwächter Form. Sie wird uns als ruhelos in den Folgejahren beschrieben, wechselt mehrfach die Wohnung, nimmt immer wieder mit Provisorischem vorlieb, wird punktuell inkonsequent. Im Alter folgt sie beispielsweise dem Rat, sich Anti-Rutsch-Utensilien fürs Bad im Internet zu bestellen – die sie dann nicht bezahlt. Sie vergisst Strafzettel und einigt sich mit dem Gerichtsvollzieher schließlich auf Ratenzahlungen….

Das alles erfährt ihre Tochter, als sie den Nachlass ordnet. Dabei erinnert sie sich an Episoden, Gefühle und Eindrücke bis hin zum Räuspern ihrer Mutter. Die Hamburger Autorin Kristine Bilkau durchdringt dies Geflecht, ohne den Figuren zu nahe zu treten. Ein feinfühliges Abtasten der Begebenheiten gelingt ihr, wie schon in ihrem Debüt-Roman Die Glücklichen, der ihr ein begeistertes Medienecho und mehrere Preise einbrachte. Ihr federnder Stil kommt ohne grelle Beleuchtung aus, um sowohl Nebensächliches als auch Zentrales eindrücklich darzustellen. Trauer schwemmt bekanntlich vieles an die Oberfläche – Unvergessliches oder bereits vergessen Geglaubtes, das manchmal Verknüpfungen mit dem Hier und Heute eingeht, die überraschend erhellend sind.

„Du wirst den Reichtum deiner Gedanken haben“, hatte die Mutter bei einem der letzten Telefonate gesagt, als die Tochter gestand, dass sie sich vor dem Alter fürchtet. Darin drückt sich die Haltung aus, die Mutter und Tochter verband. Ein aufgeräumtes Verhältnis, das nicht nur dem Rätsel um die nicht eingelöste Liebe respektvoll Raum lässt. In eine aufgeräumte Stimmung entlässt der Roman auch seine LeserInnen; wer gerne mit Widerhaken ringt oder Potential für Empörung sucht, geht hier leer aus. Kristine Bilkau versteht es, Unerklärliches und Missglücktes so „smart“ darzustellen, dass es keine Aufregung oder Ärgerlichkeit erzeugt. Schade ist das nicht, denn unterschwellig geht es letztlich um die Frage, ob sich Wünsche erfüllen müssen, um von einem „gelungenen“ Leben sprechen zu können. Bei der Lösung dieses Rätsels hilft im Endeffekt wirklich nur der eigene „Reichtum der Gedanken“.

Kristine Bilkau: Eine Liebe, in Gedanken. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2018.
253 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875187

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