Ferdinand von Schirach erzählt in „Carl Tohrbergs Weihnachten“ von logischen Entgleisungen
Schicksalhafte Ungeheuerlichkeiten nehmen den Leser des Bändchens „Carl Tohrbergs Weihnachten“ gefangen. Jede Zeile verdichtet die Atmosphäre und strebt einem Resultat zu, das schlicht das Prädikat „passt“ verdient. Zwar erhofft man sich, dass Lebenswege sich an solchen Abgründen vorbeischlängeln, wie sie Ferdinand von Schirach in den drei Kurzgeschichten erzählt, doch man weiß von Anfang an, dass hier unausweichlich etwas aus den Fugen gerät.
So ist man erschüttert und gleichzeitig auch eine Spur erleichtert, wenn jeweils der Wendepunkt überschritten ist und die unterschwellige Anspannung nachlassen kann. Diese ergibt sich daraus, dass Vorschichte und Tathergang nüchtern, knapp, präzise und distanziert geschildert werden, als strebe die Handlung nicht auf eine Entgleisung zu. Vielmehr kann man sich darauf verlassen, dass etwas Einleuchtendes – wenn auch Befremdliches – geschehen wird. Folgerichtigkeit und Abgrund verschmelzen bei den vorgestellten Charakteren auf eine unspektakuläre Weise. Dass dies gegebenenfalls im Sinne der Rechtsstaatlichkeit als Verbrechen zu gewichten ist, steht auf einem völlig anderen Blatt.
Sicherlich ist diese Verlässlichkeit auch mit dem Namen des Autors verknüpft, der für diesen Stil bekannt ist. Seine vorausgegangenen Werke „Verbrechen“ und „Schuld“ sorgten für Furore und waren auch außerhalb Deutschlands Bestseller. Im Hauptberuf ist Ferdinand von Schirach Strafverteidiger und darin geübt, Verbrechen so zu erklären, dass seine Mandanten ein möglichst mildes Urteil erwarten dürfen.
Die Verletztheit oder Beschränktheit des Täters, ja seine Grenzen schlechthin, skizziert von Schirach mit wenigen Worten. Im Falle von der Geschichte „Carl Tohrbergs Weihnachten“ steht das gleichförmige Leben des Abteilungsleiters in einem Versicherungskonzern als unumstößliche Normalität im Raum, bevor in der Familienidylle die einstige Zurückweisung und Unterdrückung von Carls künstlerischer Ader einen Blutzoll fordert. Völlig überraschend, aber am Ende verstehen wir den Täter – nicht die Tat! An der schlichten Dramatik fesselt die Vielschichtigkeit und Raffinesse, die hier scheibchenweise unaufgeregt offenbart wird und das Bittere um so nachhaltiger einrasten lässt.
Die anderen beiden Geschichten vollziehen sich ebenfalls nicht in Bausch und Bogen, sondern bleiben der Banalität des Alltäglichen verhaftet. Da verliebt sich ein Konditor in eine Kundin, eine japanischen Musikstudentin. In seinem früheren Leben irrte er, als er dachte, dass seine Ehefrau ihn betrüge. Den Mord an ihr hat er im Knast gesühnt und arbeitet nun nicht mehr als Meister in seinem Handwerk, sondern hält sich mit einem Backshop über Wasser. Wir spüren, dass er davon ausgeht, von der freundlichen Studentin erhört zu werden, obwohl nichts auf feinsinniges Umgarnen seinerseits hindeutet, das diese irgendwie auf seine Liebesbezeugung hätte vorbreiten können. Die Katastrophe passiert schneller, als der Leser sie sich ausmalen kann. Sie erwischt ihn kalt, obwohl sie längst zwischen den Zeilen schicksalhaft im Bereich des Möglichen schwang.
In der dritten Geschichte ist die Doppelbödigkeit noch frappierender. Ein braver Amtsrichter, bis zur Pensionierung ein Ausbund an Korrektheit und Regelmäßigkeit, kommt mit dem Abschied vom Berufsleben nicht klar. Im Übereifer unterläuft ihm ein Lapsus, wonach er aus Scham in die Ferne flieht. Dort – das enthüllt sich aber erst nach seinem Tod – hat er sich in ein lüsternes, ausschweifendes Wesen verwandelt. Ohne Tabus zu berücksichtigen, praktizierte er das Gegenteil seines jahrzehntelangen Lebensstils. Dennoch ist ihm eine Beisetzung im Familiengrab im Allgäu vergönnt. Seine Schwester beginnt zu weinen, als der Pfarrer von einem „erfüllten Leben“ spricht.
Von Schirachs gekonnter Minimalismus unterhält und fasziniert. Eins und eins ergibt eben selten zwei, sondern andere Gebilde, die nicht weniger logisch sind, aber jenseits der Denkschienen liegen, derer sich alle Welt bedient. Deshalb kann man den Autor für seine Einsichten nur beglückwünschen, die er in seinem Beruf erhält, literarisch aufs vortrefflichste zu verarbeiten versteht und dem Lesepublikum zur Horizonterweiterung schenkt.
Ferdinand von Schirach: Carl Tohrbergs Weihnachten. Stories.
Piper Verlag, München 2012.
60 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783492055529