Auszug „Das innere Korsett“ Seite 83/84

mit freundlicher Genehmigung des C. H. Beck Verlages

Frauenhirn – Männerhirn 

Mittlerweile wir immer häufigen versucht, das Verhalten von Männern und Frauen durch Unterschiede im Aufbau des Gehirns zu erklären, indem moderne bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomographie für die Hirnforschung eingesetzt werden. Wenn sich – so die Vermutung – im Gehirn Unterschiede nachweisen lassen, dann müssten die Verhaltensunterschiede biologisch bedingt sein. Eine Untersuchung mit knapp 1000 Teilnehmern zwischen 8 und 22 Jahren zeigte tatsächlich unterschiedliche Verknüpfungen in weiblichen und in männlichen Gehirnen. Männliche Gehirne sind so optimiert, dass ihnen räumliche Fähigkeiten und motorische Aufgaben besser gelingen. Weibliche Gehirne sind in ihren Verbindungen hingegen eher auf Gesichter, Wörter und Soziale Fähigkeiten optimiert.

Doch zeigte sich ebenfalls, dass sich die Hirnarchitektur noch nicht in der frühen Kindheit, sondert erst ab dem dreizehnten Lebensjahr unterscheidet. Wieder stellt sich hier also die Frage nach Ursache und Wirkung. Denn die Schaltkreise unseres Gehirns verändern sich im Laufe unseres Lebens. Wir werden nicht mit dem Gehirn geboren, das bis zum Tod identisch bleibt. Das Gehirn wird ständig umgebaut – und zwar als Reaktion auf Umweltbedingungen oder das Lernen neuer Fertigkeiten.

Hirnforscher und Biologen sprechen hier von „Neuroplastizität“, welche die unaufhörliche Veränderung unseres Gehirns im Laufe des Lebens beschreibt. Mit jeder Erfahrung, die wir machen, verbinden sich gewissermaßen neue Schaltkreise in unserem Oberstübchen. Werden dieselben Erfahrungen wieder und wieder gemacht, ergeben sich daraus im Laufe der Zeit dauerhafte neuronale Verbindungen. „Unser Gehirn wandelt sich, wenn wir laufen und sprechen lernen. Es modifiziert sich, wenn wir uns etwas einprägen. Es ändert sich, wenn uns klar wird, dass wir ein Mädchen oder ein Junge sind“, erklärt die Neurobiologin Lise Eliot.

„Neuroplastizität“ bedeutet also, dass uns auf der einen Seite alle Möglichkeiten des Lernens offenstehen und wir nicht von der Natur auf bestimmte Dinge festgelegt sind, doch es bedeutet auf der anderen Seite auch, dass sich das Gehirn unter dem Einfluss von Klischees in eine bestimmte Richtung entwickelt und sich somit geschlechtertypisches Verhalten in der Struktur des Gehirns niederschlägt. „Die folgenreichsten Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen – in kognitiven Fertigkeiten wie Sprechen, Lesen und mathematischem und technischem Verständnis sowie in zwischenmenschlichen Merkmalen wie Aggressivität, Einfühlungsvermögen, Wagemut und Konkurrenzbereitschaft sind in hohem Maße von Lernerfahrungen abhängig“, wie Eliot weiß. Das heißt, dort, wo es anfangs noch lediglich kleine Unterschiede gibt, werden diese immer größer, und zwar dadurch, dass man Mädchen und Jungen andere Angebote zum Einüben von Fertigkeiten macht. Klischees sind also alles andere als nur ein harmloser und unterhaltsamer Zeitvertreib, sondern machtvolle Bilder, die unser Verhalten lenken können, ohne dass wir dies wollen oder ihnen etwas entgegensetzen könnten. „Die Stereotypisierung erschafft erst die Unterschiede, di sie beschreiben vorgibt.“ (Anmerkung: Zitiert wird hier Rebecca Jordan-Young 2010 im Focus Magazin Nr. 19)